© Roland Schappert

ANGEPASSTE INTOLERANZ artist Kunstmagazin, Nr. 121, 2019

1998 veröffentlichte Slavoj Žižek »Ein Plädoyer für die Intoleranz«. Zu diesem Zeitpunkt dachte noch niemand an die Anschläge auf das World Trade Center und an die Bedrohungsszenarien unserer westlichen Demokratien. Der Prozess gegen die noch lebenden 9/11-Verschwörer soll nach US-Medienberichten 2021 beginnen. Das US-Haftlager Guantanamo wird zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht geschlossen sein, dafür soll der Prozess dort vor einer der Militärkommissionen stattfinden, die unter dem früheren Präsidenten George W. Bush eigens dafür eingesetzt worden waren, um im Rahmen des »Kriegs gegen den Terror« Beschuldigte abzuurteilen.Vgl. https://www.stern.de/news/us-medien— prozess-gegen-9-11-verschwoerer-soll-2021-beginnen-8880394.html

Der streitbare Žižek beschäftigte sich in einem Interview der FAZ vom 15.10.2001 mit den Widersprüchen des westlichen Toleranzbegriffs und stellte die provokante Frage, warum denn niemand im Westen Toleranz gegenüber den Taliban zeige, und beantwortete die selbstgestellte Frage mit der Feststellung, dass nur diejenigen in den Genuss unserer westlichen Toleranz gelangen könnten, die genauso tolerant sind wie wir, und das sei eben intolerant. Man konnte und kann diese spitzfindige Äußerung als philosophische Reflexion markieren, annehmen oder ablehnen.

Warum sollte man sich aber 2019 noch einmal mit Žižeks Plädoyer für die Intoleranz beschäftigen, wenn man das kulturelle und soziopolitische Geschehen unserer Gegenwart betrachtet? Žižek behauptete vor 21 Jahren in seinem Plädoyer, »der multikulturalistische Respekt vor der Besonderheit des Anderen ist nichts als die Behauptung der eigenen Überlegenheit«. (Vgl. ders.: Ein Plädoyer für die Intoleranz, Passagen Verlag, 1998, S. 71, die folgenden Zitate ebd.) Der Multikulturalist sei zwar kein unmittelbarer Rassist, »er erlegt dem Anderen nicht die partikularen Werte seiner eigenen Kultur auf«, dafür handele er aus der Position »eines privilegierten leeren Platzes der Universalität, von der aus man in der Lage ist, die anderen partikularen Kulturen zu bewerten (oder zu entwerten)…«. Žižek forderte dazu auf, immer nach »dem partikularen Inhalt zu suchen, der für die spezifische Effizienz einer ideologischen Vorstellung einsteht«. (S. 16) Dies schien ihm wichtig, weil für ihn jeder Kampf um eine ideologisch-politische Hegemonie immer zugleich mit einem partikularem Anspruch und dem Verfehlen eines universalen Anspruchs zu tun hat. Žižek sah zudem in seiner Schrift das Problem des Multikulturalismus in der hybriden Koexistenz von diversen kulturellen Lebenswelten als Ausdruck der massiven Präsenz des Kapitalismus in einem globalen Weltsystem. Dieses große Andere, der weltweite Kapitalismus, bleibt in seinem fragwürdigen universalen Anspruch unangetastet. Der anzustrebende weltweite Kampf für eine Repolitisierung der Ökonomie, der einer unhinterfragten Legitimierung des multinationalen Kapitals (vgl. S. 75–76) Einhalt bieten könnte, werde in einen Kulturkampf um die »gönnerhafte« Anerkennung von Marginalidentitäten mit einer »falschen ‚Toleranz’« (S. 76) gegenüber allen Unterschieden lokaler Kulturen umgewandelt. Dies geschieht tatsächlich bis heute noch oftmals nach dem eurozentristischen Muster einer Idee allgemeiner Menschenrechte.